Hin und wieder hören wir von Menschen, die sich ein sogenanntes Sabbatical nehmen, ein Jahr Auszeit vom Beruf. Sie reisen um die Welt oder ziehen sich an einen abgelegenen Ort zurück und sind ganz bei sich. Für ein ganzes Jahr. Das muss wahnsinnig erholsam und entschleunigend wirken, denken wir uns dann ein wenig neidisch. Wer wandert, ist etwas weniger neidisch. Denn wer wandert, ist regelmäßig Aussteiger auf Zeit. Mikro-Sabbaticals nehmen wir Wanderer uns andauernd.
Wer in einen Wanderweg einsteigt, der steigt aus so ziemlich allem anderen aus. Ganz gleich, ob es sich dabei um einen kurzen Wandertrip von ein paar Stunden handelt oder um einen Fernwanderweg von 100 Kilometern. Denn wer wandert, nimmt sich ganz bewusst einen Zeitraum Auszeit vom restlichen Leben. Er plant ein, die nächsten Stunden, Tage oder vielleicht sogar Wochen nicht ununterbrochen verfügbar zu sein. Er plant ein, möglicherweise im tiefsten Hunsrück, auf einem 3000er in Südtirol oder auf dem Harzer Hexenstieg einfach mal keinen Handy-Empfang zu haben. Das ist unsere Auszeit auf Zeit.
Wander-Aura und Aussteiger-Nimbus
Als ich meinen ersten größeren Wander-Urlaub antrat, eine Fünf-Tages-Tour auf dem Rheinsteig durch das Obere Mittelrheintal, klingelte am ersten Tag und nach wenigen Kilometern mein Handy. Ein Kollege von mir hatte eine Frage zu unserem Redaktionssystem. Hätte ich über einen Laptop und Internet verfügt, ich hätte sie ihm beantworten können. So aber rätselten wir telefonierend ein wenig hin und her, meine Mitwanderer rollten mit den Augen und am Ende mussten wir feststellen: Er muss sich da selber durch wursteln. Ich konnte ihm einfach nicht helfen. Danach sind die dienstlichen Anrufe seltener geworden. Nach weiteren solcher Begebenheiten haben sie inzwischen ganz aufgehört, wenn meine Kollegen wissen, dass ich wandernd durch die Weltgeschichte unterwegs bin.
Meinen Mitwanderern ging es bislang stets ähnlich. Entweder verliefen dienstliche Telefonate oftmals wenig fruchtbar und ergebnislos. Oder die Kollegen riefen erst gar nicht an. Das wiederum liegt an etwas, das sich Wander-Aura nennen möchte. Wenn jemand über mehrere Tage und dann auch noch am Stück und von Ort zu Ort wandert, umgibt ihn in den Augen vieler gleich eine Art Aussteiger-Nimbus. Wie wir inzwischen wissen: gar nicht mal so zu Unrecht! Und so jemanden stört man einfach nicht. Für viele fühlt es sich an, als würde man jemanden beim Meditieren unterbrechen. Das bringt uns zum nächsten Gedanken…
Camino nix für Dieter Thomas Heck
Ist Wandern vielleicht sogar ein bisschen wie Meditieren? Freilich, das hängt von der Gesellschaft ab – weniger vom Weg! Wer in großer und gesprächiger Runde unterwegs ist, der wird zweifellos viel Spaß und unterhaltsame Gespräche haben, vom Meditieren aber ist er mindestens einen Rothaarsteig entfernt. Wer hingegen alleine wandert oder mit anderen, denen auch Stille nicht zwangsläufig unangenehm ist, der wird diese Erfahrung machen. Das ist denn auch der Grund, warum sich so viele Jakobs-Pilgerer lieber alleine auf den Camino machen. Wer zu sich selbst oder gar zu Gott finden will, kann dabei nicht unentwegt dampfplaudern wie Dieter Thomas Heck. Da kommen die Seele und der Schöpfer einfach nicht zu Wort.
Wer in ruhigerer Gesellschaft oder ganz allein unterwegs ist, ist nicht nur sehr bei sich, sondern auch beim Weg. Für mich das A und O einer richtig guten Wanderung: beim Weg sein. Das heißt vor allem, sich auf den Weg einzulassen, ihn als Persönlichkeit wahrnehmen und seine Ecken und Kanten, seine Schönheit und seine Besonderheiten zu entdecken. Fast wie in einer langjährigen Beziehung, nur dass es hier viel schneller geht. Auch in der „Kommunikation“ zwischen Wanderer und Weg stellen sich die klassischen Beziehungsfragen: Was erwartet der Wanderer vom Weg? Welche Ansprüche stellt der Weg an den Wanderer? Und gibt es eine gemeinsame Zukunft? Und wie in einer echten Beziehung wird es eben nur dann etwas, wenn beide aufeinander eingehen. Dazu muss man sich auf das Gegenüber einlassen und versuchen, es genau zu verstehen. Beim Weg sein eben. Wie im richtigen Leben ist es auch hier so: Funktioniert das gut, klappt die Beziehung und dann entsteht daraus echtes Glück.
Unser Mikro-Sabbatical
Aber noch einmal zurück zum Sabbatical. Diese Wortschöpfung, irgendwie symptomatisch für unsere Zeit, stammt ab vom Hebräischen schabat. Das bedeutet ungefähr so viel wie aufhören oder ruhen. Man muss nicht lange grübeln, ehe sich die Verbindung zum Wandern zeigt. Wer wandert, hört mit allem anderen auf. Zumindest so lange wie die Wanderung dauert. Gleichzeitig wandern und beispielsweise an der Börse makeln oder ein neues Eigenheim finanzieren oder die Steuerunterlagen zusammen stellen, das funktioniert halt nicht. Und oft genug verrichten wir im Alltag mehrere Dinge irgendwie gleichzeitig oder übergreifend und viel zu selten gründlich. Meist weil die Zeit fehlt.
Das kann uns beim Wandern nicht passieren, denn wir planen ein, in dieser Zeit nichts anderes zu tun. Wir ruhen in uns selbst und sei es nur, weil wir es genauso geplant haben – für diesen Sonntagnachmittag oder diese Urlaubswoche. Aber es ist unsere Art von schabat, unser Mikro-Sabbatical. Und das können wir immer dann gönnen, wenn wir es nötig haben.
Ja so ist das, dem kann ich nur beipflichten. Leider sind selbst diese Micro Sabaticals viel zu selten…
Hallo Bert! Danke für deinen Kommentar. Jetzt kommt ja bald die wärmere Jahreszeit, da sollten wieder mehr Mikro-Sabbaticals drin sitzen 🙂
Viele Grüße
Ingmar
Wie sagte neulich ein Freund so treffend: In den Bergen hat man schlechtes Netz, aber besseren Empfang.
Liebe Grüße vom Bodensee!
Wandern macht glücklich – dem ich kann nur absolut beipflichten. Diese kleinen Auszeiten, man möge sie nennen, wie man möchte, sind für mich einfach Gold wert. Gerade gestern war ich bei tollem Wetter wieder alleine unterwegs im Hunsrück. Mitten in der Woche, mitten am Tag und hatte den Weg fast für mich alleine. Wenn dann noch das Smartphone lautlos ist oder keinen Empfang hat, ist die Entspannung für mich perfekt. Sollte man sich öfter gönnen, denke ich mir dann jedes Mal… 🙂
Liebe Grüße
Cora
Genauso geht es mir beim Wandern auch, liebe Cora. Irgendwie erstaunlich ist ja auch, dass man Wandertouren oftmals als besonders schön empfindet, wenn man – wie du auch schreibst – den Weg „für sich alleine“ hat. Wanderer sind ja eigentlich eher gesellige Typen, wenigstens nach meiner Erfahrung 😀 Trotzdem genießen wir die Einsamkeit auf dem Weg…
Liebe Grüße
Ingmar